Wenn Sie nach einigen Minuten Gehen plötzlich Schmerzen in den Beinen spüren, die nur verschwinden, wenn Sie sich vorbeugen oder sich hinsetzen, dann könnte es sich nicht um eine Durchblutungsstörung handeln - sondern um eine neurogene Claudicatio. Dieses Symptom ist das charakteristische Zeichen einer lumbalen Spinalstenose, einer Verengung des Wirbelkanals im unteren Rücken. Im Gegensatz zu vascularer Claudicatio, die durch verengte Arterien verursacht wird, entsteht diese Form durch Druck auf die Nervenwurzeln. Und das macht den Unterschied bei der Behandlung entscheidend.
Was ist neurogene Claudicatio?
Neurogene Claudicatio ist keine Krankheit für sich, sondern ein Symptom. Es tritt auf, wenn die Nerven im Lendenwirbelkanal durch degenerative Veränderungen eingeengt werden - etwa durch abgenutzte Bandscheiben, vergrößerte Gelenke oder verdickte Bänder. Die Nerven können dann nicht mehr richtig mit Sauerstoff versorgt werden, besonders wenn Sie stehen oder gehen. Das Ergebnis: ein schweres, ziehendes Gefühl in den Beinen, Kribbeln, Taubheit oder sogar Schwäche.
Die Besonderheit? Die Beschwerden verschwinden nicht einfach, wenn Sie stehen bleiben. Sie brauchen vorwärts gebeugte Haltung. Ein Schritt nach vorne, den Kopf senken, sich auf einen Einkaufswagen stützen - das ist der sogenannte Shopping-Cart-Sign. Etwa 68 bis 85 % der Betroffenen berichten davon. Manche sitzen einfach auf eine Bank, andere bücken sich, um ihre Schuhe zu binden. Diese Haltung entlastet den Wirbelkanal und gibt den Nerven Raum zurück.
Im Gegensatz dazu: Bei vascularer Claudicatio, verursacht durch Arterienverkalkung, verschwindet der Schmerz nach kurzer Ruhe - egal in welcher Position. Bei neurogener Claudicatio bleibt der Schmerb bestehen, solange Sie gerade stehen. Das ist ein entscheidender Unterschied, den viele Ärzte übersehen. Ein Patient aus Zürich berichtete: „Drei Ärzte sagten, es sei Durchblutungsstörung. Erst der vierte fragte: ‚Können Sie sich vorbeugen, ohne Schmerzen?‘“
Wie wird neurogene Claudicatio diagnostiziert?
Die Diagnose beginnt nicht mit einem MRT, sondern mit einer Frage: „Wann treten die Schmerzen auf?“ Wenn die Antwort lautet: „Beim Gehen, aber nicht beim Radfahren“ - das ist ein klares Indiz. Warum? Beim Radfahren sitzt man in leicht gebeugter Haltung - das entlastet den Wirbelkanal. Beim Gehen steht man aufrechter - das drückt die Nerven zusammen.
Ärzte prüfen auch die Reflexe, die Muskelfunktion und die Sensibilität in den Beinen. Ein einfacher Test: der fünfmalige Sitzen-Stehen-Test (5R-STS). Wer in etwa 10 Sekunden fünf Mal von einem Stuhl aufsteht, hat keine schwere Funktionsbeeinträchtigung. Wer länger braucht, zeigt Anzeichen einer fortschreitenden Nervenkompression.
Ein weiterer Hinweis: Die Abnahme der Muskulatur am Fuß, besonders des Extensor digitorum brevis. Dieser kleine Muskel wird oft übersehen, ist aber ein zuverlässiger klinischer Marker. Wenn er schrumpft, deutet das auf eine langjährige Nervenreizung hin.
MRT-Bilder zeigen zwar Verengungen - aber nicht immer die Ursache der Beschwerden. Bis zu 67 % der Menschen über 60 haben Verengungen im MRT, ohne Symptome. Deshalb ist die klinische Symptomatik wichtiger als das Bild. Ein MRT bestätigt nur, was die Anamnese und die körperliche Untersuchung bereits vermuten lassen.
Warum ist die Unterscheidung so wichtig?
Weil die Behandlungen völlig anders sind. Bei vascularer Claudicatio brauchen Sie Medikamente zur Verbesserung der Durchblutung, eventuell eine Ballonangioplastie oder Bypass-Operation. Bei neurogener Claudicatio hilft das nicht - im Gegenteil: Sie riskieren unnötige Eingriffe und verlieren wertvolle Zeit.
Ein Fall aus der Praxis: Ein 68-jähriger Mann aus Basel hatte jahrelang Schmerzen beim Gehen. Sein Hausarzt vermutete Arteriosklerose, verschrieb Blutverdünner. Die Symptome blieben. Erst als ein Neurologe ihn fragte: „Können Sie sich vorbeugen, um die Schmerzen zu lindern?“ - und er nickte -, wurde die wahre Ursache erkannt. Zwei Monate Physiotherapie und ein paar Anpassungen im Alltag brachten Linderung. Kein Eingriff nötig.
Das ist der Kern: Neurogene Claudicatio wird nicht mit Blutgefäßen behandelt, sondern mit Haltung, Bewegung und Nervenentlastung.
Konservative Behandlung: Was funktioniert wirklich?
Die erste Linie der Behandlung ist immer konservativ - und oft erfolgreich. Studien zeigen, dass 82 % der Patienten mit früher Stenose ihre Beschwerden durch konservative Maßnahmen deutlich reduzieren können.
- Physiotherapie: Fokus liegt auf Flexionsübungen - also Übungen, bei denen Sie sich nach vorne bücken. Der „Cat-Cow“ aus dem Yoga, das „Knie-zum-Brust“-Training oder das Gehen mit einem Einkaufswagen als Stütze. Diese Bewegungen dehnen den Wirbelkanal und entlasten die Nerven. Eine Studie aus der Schweiz zeigte: Nach 6-8 Wochen regelmäßiger Therapie verbesserten sich die Gehstrecken um durchschnittlich 40 %.
- Medikamente: Nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen helfen bei Schmerzen und Entzündungen. Manchmal werden auch Antidepressiva in niedriger Dosis verschrieben - sie wirken auf die Nervenleitfähigkeit und lindern Kribbeln. Keine Opioiden - sie helfen nicht langfristig und bergen Abhängigkeitsrisiken.
- Lebensstil: Gewichtsreduktion ist entscheidend. Jedes Kilogramm weniger reduziert den Druck auf die Lendenwirbelsäule. Auch das Vermeiden von Hochhackigen und das Nutzen von Rollatoren oder Gehwagen können die Belastung deutlich senken.
Ein Patient aus Aarau, 71, berichtet: „Ich gehe jetzt nicht mehr zum Bäcker - ich lasse mir die Brötchen liefern. Aber ich gehe jeden Morgen 15 Minuten mit meinem Einkaufswagen durch den Park. Seit drei Monaten kann ich wieder 400 Meter gehen - vorher war es 100.“
Interventionelle Therapien: Wenn Konservativ nicht reicht
Wenn nach 3-6 Monaten keine Besserung eintritt, kommen Injektionen in Betracht. Epidurale Steroidinjektionen - Spritzen in den Bereich um die Nervenwurzeln - können die Entzündung reduzieren und kurzfristig Linderung bringen. Die Erfolgsrate liegt bei 50-70 %. Aber: Es ist keine Heilung, sondern eine Pausenbremse. Die Wirkung hält meistens 3-6 Monate an.
Neuere Techniken wie die Interspinöse Dekompression mit dem Gerät „Superion“ (FDA-zugelassen seit Januar 2023) bieten eine minimally invasive Option. Dabei wird ein kleiner Spalt zwischen den Wirbeln mit einem Implantat aufgehalten, das den Kanal erweitert, ohne Knochen zu entfernen. In klinischen Studien berichteten 78 % der Patienten nach 24 Monaten von hoher Zufriedenheit.
Operation: Wann ist sie nötig?
Chirurgie ist kein Notfall - sondern eine letzte Option. Sie wird empfohlen, wenn:
- Die Schmerzen so stark sind, dass der Alltag unmöglich wird
- Es zu Muskelschwäche oder Harn- oder Stuhlinkontinenz kommt
- Konservative Maßnahmen über sechs Monate hinweg versagt haben
Die gängigsten Eingriffe sind:
- Laminektomie: Entfernung des Wirbelbogens, um Platz für die Nerven zu schaffen.
- Laminotomie: Nur ein Teil des Wirbelbogens wird entfernt - weniger invasiv.
- Minimally invasive Dekompression: Mit kleinen Schnitten und speziellen Instrumenten - kürzere Genesungszeit.
Studien zeigen: 70-80 % der gut ausgewählten Patienten haben nach einem Jahr eine „gute bis ausgezeichnete“ Verbesserung. Aber: Nicht jeder profitiert. Wer zu spät operiert wird - etwa bei schwerer Muskelschwäche - hat oft bleibende Schäden.
Was passiert, wenn man nichts tut?
Spinalstenose verschlimmert sich langsam - aber stetig. Ohne Behandlung kann die Gehstrecke von 500 Metern auf 50 Meter sinken. Die Betroffenen werden immer weniger mobil, verlieren Muskeln, werden abhängig. Einige entwickeln eine sogenannte „simian Haltung“ - dauerhaft gebeugt, weil sie sich nicht mehr aufrichten können.
Die gute Nachricht: Mit frühzeitiger Erkennung und konsequenter Physiotherapie bleibt die meisten Menschen aktiv. Wer sich bewegt - auch wenn es nur mit dem Einkaufswagen ist - baut nicht nur Muskeln auf, sondern auch Vertrauen in den eigenen Körper.
Was kommt als Nächstes?
Die Forschung geht weiter. Das International Spine Study Group arbeitet an einem standardisierten Diagnosealgorithmus, der bis Ende 2024 veröffentlicht werden soll. Ziel: Klarere Kriterien, um zwischen symptomatischer und asymptomatischer Stenose zu unterscheiden - und so unnötige Operationen zu vermeiden.
Auch die Technik verbessert sich: Roboter-assistierte Operationen, neuartige Biologika zur Nervenregeneration und künstliche Intelligenz zur Analyse von MRT-Bildern könnten in den nächsten Jahren die Behandlung verändern.
Was bleibt, ist die Grundregel: Die Symptome sagen mehr als das Bild. Wer sich vorbeugen kann, um Schmerzen zu lindern, hat neurogene Claudicatio - nicht eine Durchblutungsstörung. Und das verändert alles.
Ist neurogene Claudicatio dasselbe wie eine Durchblutungsstörung?
Nein. Bei einer Durchblutungsstörung (vaskuläre Claudicatio) entsteht der Schmerz durch zu wenig Blutfluss in den Beinen - meist wegen verengter Arterien. Der Schmerz verschwindet, wenn Sie stehen bleiben, egal in welcher Position. Bei neurogener Claudicatio hingegen brauchen Sie eine vorwärts gebeugte Haltung, um die Nerven zu entlasten. Der Schmerz bleibt bestehen, wenn Sie einfach nur stehen. Ein wichtiger Unterschied: Bei vaskulärer Claudicatio sind die Pulsationen in den Füßen oft schwach; bei neurogener Claudicatio sind sie normal.
Kann ich mit neurogener Claudicatio noch wandern oder radfahren?
Radfahren ist oft gut möglich - weil Sie dabei sitzen und den Rücken gebeugt halten, was den Wirbelkanal entlastet. Wandern ist schwieriger, aber nicht unmöglich. Mit einem Gehstock oder einem Einkaufswagen als Stütze können viele Betroffene längere Strecken bewältigen. Wichtig ist, regelmäßig Pausen einzulegen und sich vorzubeugen, wenn die Schmerzen kommen. Viele Patienten schaffen 2-3 Kilometer mit kurzen Unterbrechungen.
Wie lange dauert es, bis Physiotherapie wirkt?
Die meisten Patienten spüren erste Verbesserungen nach 3-4 Wochen, aber eine signifikante Veränderung der Gehstrecke tritt erst nach 6-8 Wochen regelmäßiger Therapie ein. Die Übungen müssen konsequent durchgeführt werden - nicht nur einmal pro Woche. Tägliche 20 Minuten Flexionsübungen, kombiniert mit leichtem Gehen, sind effektiver als ein stündiger Termin pro Woche.
Warum hilft ein Einkaufswagen beim Gehen?
Ein Einkaufswagen zwingt Sie, den Oberkörper nach vorne zu beugen - genau die Haltung, die den Wirbelkanal erweitert und den Druck auf die Nerven reduziert. Diese Haltung wird auch „simian stance“ genannt - nach der Art, wie Affen sich bewegen. Es ist keine „Lösung“, aber eine praktische Strategie, um den Alltag zu bewältigen. Viele Patienten nutzen ihn nicht nur beim Einkaufen, sondern auch bei Spaziergängen im Park.
Wann sollte ich mich operieren lassen?
Sie sollten über eine Operation nachdenken, wenn die Schmerzen so stark sind, dass Sie nicht mehr arbeiten, schlafen oder ohne Schmerzmittel nicht mehr gehen können - und wenn konservative Behandlungen über mindestens sechs Monate hinweg nicht geholfen haben. Wenn Sie plötzlich Schwäche in den Beinen verspüren, Schwierigkeiten beim Treppensteigen oder Probleme mit der Blasen- oder Darmkontrolle haben, ist das ein Notfall. Dann brauchen Sie eine Operation so schnell wie möglich.
Geschrieben von Fenja Berwald
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