Wenn du Diabetes hast, ist dein Risiko, eine diabetische Retinopathie zu entwickeln, viel höher, als du denkst. Fast jeder dritte Erwachsene mit Diabetes in den USA leidet daran - und viele bemerken es erst, wenn es zu spät ist. Die Netzhaut, das empfindliche Gewebe hinten im Auge, das Licht in Nervensignale umwandelt, wird langsam von hohen Blutzuckerspiegeln angegriffen. Die Schäden passieren still und leise. Keine Schmerzen. Keine Symptome. Kein Grund zur Sorge - bis plötzlich das Sehen verschwimmt, Flecken auftauchen oder das Nachtsicht verloren geht.
Wie entsteht eine diabetische Retinopathie?
Es beginnt mit Zucker. Nicht mit einem Stück Kuchen, sondern mit jahrelang erhöhten Blutzuckerspiegeln. Dieser ständige Überfluss an Glukose schädigt die winzigen Blutgefäße in der Netzhaut. Sie werden brüchig, lecken Flüssigkeit aus oder verstopfen komplett. Die Netzhaut bekommt nicht mehr genug Sauerstoff und Nährstoffe. Als Reaktion versucht der Körper, neue Blutgefäße zu bilden - aber diese sind fehlerhaft: dünn, zerbrechlich und ohne Funktion. Sie bluten leicht, ziehen die Netzhaut zusammen oder blockieren den Abfluss von Flüssigkeit im Auge.
Diese Veränderungen passieren in drei Stufen. Die erste ist die milde nicht-proliferative Retinopathie: kleine Beulen an den Blutgefäßen, sogenannte Mikroaneurysmen. Sie sind noch harmlos - aber ein Warnsignal. In der zweiten Stufe, der moderaten bis schweren nicht-proliferativen Retinopathie, verstopfen immer mehr Gefäße. Das führt zu Schwellungen in der Netzhaut, besonders im Macula, dem Bereich für scharfes Zentralsehen. Das ist die diabetische Makulaödem - die häufigste Ursache für Sehverschlechterung bei Diabetikern. Die dritte und gefährlichste Stufe ist die proliferative diabetische Retinopathie: neue, abnormale Blutgefäße wachsen auf der Netzhautoberfläche. Sie können ins Glaskörper gelangen, das Auge bluten lassen oder die Netzhaut von ihrer Unterlage abziehen - und damit das Sehen komplett zerstören.
Warum merkst du es oft zu spät?
Die größte Gefahr der diabetischen Retinopathie ist, dass sie fast immer ohne Symptome beginnt. Du kannst jahrelang gut sehen - und trotzdem hat sich schon Schaden an deiner Netzhaut angesammelt. Erst wenn die Schäden groß genug sind, zeigen sich erste Anzeichen: verschwommenes Sehen, Flecken oder „Fliegen“ vor den Augen, Probleme bei schlechtem Licht, Farben, die sich verändern, oder ein verengtes Gesichtsfeld. Viele Patienten berichten, dass sie erst beim Autofahren nachts bemerken, dass sie nicht mehr klar sehen. Andere beschreiben plötzlich auftauchende dunkle Punkte - das ist oft ein Blutung im Auge.
Studien zeigen: 68 % der Betroffenen bemerken ihre Symptome erst, wenn die Erkrankung bereits mittelgradig bis schwer ist. Und das ist der Punkt, an dem die Chancen auf vollständige Erhaltung des Sehvermögens sinken. Die gute Nachricht: Wenn du früh genug handelst, hast du eine 95 %ige Chance, dein Sehen zu retten - vorausgesetzt, du gehst regelmäßig zum Augenarzt.
Was hilft wirklich - und was nicht?
Es gibt keine Wunderkur. Aber es gibt klare, bewährte Wege, um den Schaden zu stoppen - oder zumindest zu verlangsamen. Der wichtigste Faktor ist nicht die Laserbehandlung. Es ist deine Blutzuckerkontrolle. Wer seinen HbA1c-Wert über Jahre stabil unter 7 % hält, reduziert das Risiko einer schweren Retinopathie um bis zu 76 %. Das ist kein Gerücht - das ist wissenschaftlich belegt. Genauso wichtig sind Blutdruck und Cholesterin. Hoher Blutdruck beschleunigt die Schädigung der Blutgefäße. Hohe Cholesterinwerte verstärken die Entzündungen in der Netzhaut. Und Rauchen? Es verdoppelt das Risiko.
Die zweite Säule ist die regelmäßige Untersuchung. Die Schweizer Gesellschaft für Ophthalmologie und die NHS empfehlen: Alle Diabetiker sollten mindestens einmal pro Jahr eine ausgedehnte Augenuntersuchung machen - mit Pupillenerweiterung. Kein Smartphone-Scan, kein Teststreifen, kein Sehtest in der Drogerie. Es muss eine fundierte Untersuchung mit einem Ophthalmologen sein, der nach Mikroaneurysmen, Blutungen und Schwellungen sucht. In der Schweiz ist diese Untersuchung Teil des standardmäßigen Diabetes-Management-Programms - und sie ist kostenlos für Versicherte.
Laserbehandlung: Wie funktioniert sie?
Wenn die Schäden fortgeschritten sind, kommt die Lasertherapie ins Spiel. Sie ist nicht neu - aber sie funktioniert immer noch. Der Begriff „Laser“ klingt dramatisch, aber der Eingriff ist präzise und meist ambulant. Der Augenarzt richtet einen fokussierten Lichtstrahl auf die beschädigten Blutgefäße. Bei der fokalen Lasertherapie werden gezielt die leckenden Gefäße im Macula versiegelt - das reduziert das Ödem und verbessert das Sehen. Bei der panretinalen Photokoagulation - der Behandlung der proliferativen Form - werden hunderte kleine Laserpunkte über die gesamte Netzhaut verteilt, außer im Macula. Das tötet die Bereiche ab, die nicht mehr gut durchblutet sind. Dadurch reduziert das Auge das Signal, neue Blutgefäße zu bilden.
Die Laserbehandlung ist kein Heilmittel. Sie verhindert nicht, dass die Krankheit weitergeht. Aber sie stoppt die schlimmsten Folgen: Blutungen, Netzhautablösungen, Glaukom. Studien zeigen: Nach einer vollständigen Laserbehandlung sinkt das Risiko eines schweren Sehverlustes um mehr als 50 %. Viele Patienten haben danach ein leicht verschwommenes Sehen oder Probleme mit der Nachtvision - das ist die Nebenwirkung. Aber im Vergleich zum Verlust des gesamten Sehvermögens? Ein geringer Preis.
Was kommt als Nächstes?
Die Lasertherapie ist nicht die einzige Option mehr. Seit einigen Jahren werden Medikamente direkt ins Auge gespritzt - Anti-VEGF-Mittel wie Eylea oder Lucentis. Sie blockieren ein Wachstumsprotein, das neue, fehlerhafte Blutgefäße anregt. Diese Spritzen sind besonders effektiv bei diabetischem Makulaödem - oft besser als Laser. Sie müssen aber alle 4-8 Wochen wiederholt werden. Die Kosten sind höher. Und sie sind kein Ersatz für gute Blutzuckerkontrolle.
Die Zukunft liegt in Kombination: Anti-VEGF für das Makulaödem, Laser für die proliferative Retinopathie, und überall: strenges Diabetes-Management. Neue Technologien wie künstliche Intelligenz analysieren jetzt automatisch Netzhautbilder - und erkennen Schäden noch früher als manche Augenärzte. In der Schweiz werden solche Systeme bereits in einigen Kliniken getestet. Sie könnten bald die jährliche Untersuchung effizienter machen - aber nicht ersetzen.
Was du jetzt tun kannst
Wenn du Diabetes hast - und du bist hier, weil du es bist - dann tu Folgendes:
- Prüfe deinen HbA1c-Wert alle 3-6 Monate. Ziel: unter 7 %.
- Messe deinen Blutdruck regelmäßig. Ziel: unter 130/80 mmHg.
- Steigere deine körperliche Aktivität. Spaziergänge von 30 Minuten täglich senken den Blutzucker und verbessern die Durchblutung.
- Vermeide Rauchen - komplett. Kein „manchmal“.
- Gehe jedes Jahr zum Augenarzt - und lasse dich untersuchen, nicht nur fragen, ob du etwas siehst.
- Wenn du schwanger bist und Diabetes hast: Sprich mit deinem Arzt über eine zusätzliche Augenuntersuchung im zweiten Trimester.
Es gibt keine Ausreden. Kein Zeitmangel. Kein Angst vor dem Arzt. Diese Untersuchung dauert 20 Minuten. Sie ist schmerzlos. Und sie könnte dein Sehvermögen retten - für Jahre, vielleicht für dein ganzes Leben.
Was passiert, wenn du nichts tust?
Wenn du die Warnsignale ignorierst, führt die diabetische Retinopathie fast immer zu schwerem Sehverlust - und oft zur Erblindung. In den USA ist sie die Hauptursache für Blindheit bei Erwachsenen zwischen 21 und 64 Jahren. In der Schweiz sind es jährlich mehr als 200 neue Fälle von Diabetes-bedingter Erblindung. Die meisten davon wären vermeidbar gewesen.
Und es ist nicht nur das Sehen. Wer blind wird, verliert seine Unabhängigkeit. Er kann nicht mehr selbst einkaufen, nicht mehr Auto fahren, nicht mehr lesen, nicht mehr die Enkelkinder erkennen. Die psychischen Folgen sind oft schwerer als die körperlichen.
Du hast die Macht, das zu ändern. Nicht mit einer Operation. Nicht mit einem Wundermittel. Sondern mit deiner täglichen Entscheidung: Blutzucker kontrollieren. Augenarzttermin einhalten. Nicht warten, bis es wehtut.
Kann man diabetische Retinopathie vollständig heilen?
Nein, die Schäden an der Netzhaut sind nicht rückgängig zu machen. Aber der Fortschritt der Krankheit kann fast immer gestoppt werden - besonders wenn sie früh erkannt wird. Mit Laser, Spritzen und guter Blutzuckerkontrolle bleibt das Sehvermögen erhalten. Es geht nicht um Heilung, sondern um Prävention.
Ist die Laserbehandlung schmerzhaft?
Nein. Bevor der Eingriff beginnt, bekommt du Tropfen, die das Auge betäuben. Du fühlst vielleicht einen leichten Druck oder einen kurzen Lichtblitz - aber keinen Schmerz. Nachher kann das Auge etwas gereizt sein, aber die meisten Patienten können am selben Tag wieder normal leben.
Wie oft muss ich zum Augenarzt gehen?
Mindestens einmal pro Jahr. Wenn du bereits leichte Veränderungen hast, kann dein Arzt empfehlen, alle 6 Monate zu kommen. Bei schweren Formen oder nach einer Laserbehandlung kann die Kontrolle noch häufiger nötig sein - immer abhängig von deinem individuellen Fall.
Kann ich auch ohne Symptome eine Retinopathie haben?
Ja, und das ist das Problem. Die meisten Menschen mit früher diabetischer Retinopathie haben keinerlei Beschwerden. Erst wenn die Schäden groß sind, merkt man etwas. Deshalb ist die jährliche Augenuntersuchung so wichtig - sie ist dein einziger Schutz.
Beeinflusst Schwangerschaft die Retinopathie?
Ja. Während der Schwangerschaft kann sich die Retinopathie schnell verschlechtern - besonders wenn der Blutzucker nicht gut eingestellt ist. Frauen mit Diabetes sollten vor der Schwangerschaft eine Augenuntersuchung machen und während der Schwangerschaft mindestens einmal im zweiten Trimester kontrolliert werden.
Was kommt als nächstes?
Wenn du jetzt weißt, wie ernst die Lage ist - dann handle. Buche deinen nächsten Augenarzttermin. Sprich mit deinem Diabetologen über deine HbA1c-Werte. Überlege, ob du deine Ernährung oder deine Bewegung anpassen musst. Du brauchst keine perfekte Kontrolle. Du brauchst nur konsequente Kontrolle. Jeder Tag, an dem du deinen Blutzucker im Griff hast, ist ein Tag, an dem deine Netzhaut nicht weiter beschädigt wird. Und das ist der einzige Weg, dein Sehvermögen für die Zukunft zu sichern.
Geschrieben von Fenja Berwald
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