Ein Kind nimmt versehentlich eine ganze Flasche Flüssigmedikamente ein. Oder es findet die Tabletten der Oma im Nachttisch und denkt, sie schmecken wie Süßigkeiten. In beiden Fällen ist jede Sekunde entscheidend. Medikamentenüberdosierung bei Kindern ist keine Seltenheit - sie ist eine der häufigsten Ursachen für Notfälle in der Pädiatrie. Die Giftnotrufzentrale erhält jedes Jahr über eine Million Anrufe wegen Medikamentenvergiftungen bei Kindern unter sechs Jahren. Viele Eltern warten ab, ob das Kind krank wird. Doch bei manchen Substanzen gibt es keine Zeit zu verlieren - der Schaden kann schon vor den ersten Symptomen beginnen.
Was passiert, wenn ein Kind zu viel Medikament nimmt?
Kinder verarbeiten Medikamente anders als Erwachsene. Ihr Körper ist kleiner, ihre Leber und Nieren sind noch nicht voll ausgereift, und ihre Reaktionen auf Chemikalien sind oft schneller und schwerwiegender. Eine Dosis, die für einen Erwachsenen sicher ist, kann für ein Kind tödlich sein. Besonders gefährlich sind rezeptpflichtige Medikamente wie Opioide, aber auch alltägliche Mittel wie Acetaminophen (Tylenol) oder Husten- und Erkältungssirupe. Die meisten Überdosierungen passieren zu Hause - oft weil Medikamente nicht sicher aufbewahrt werden oder weil Eltern versehentlich mehrere Produkte mit dem gleichen Wirkstoff kombinieren.Typische Anzeichen einer Überdosierung nach Medikamentenart
Die Symptome variieren stark je nachdem, welches Medikament eingenommen wurde. Hier sind die wichtigsten Warnsignale, gruppiert nach Wirkstoffgruppen:- Opioide (z. B. Oxycodon, Fentanyl): Die Pupillen werden extrem klein („Nadelpupillen“), das Kind wird schlapp, reagiert nicht mehr auf Ansprache, atmet sehr langsam oder gar nicht mehr, die Haut ist kalt und feucht, Lippen und Fingernägel verfärben sich blau oder grau. Bei Fentanyl-Überdosierungen kann es auch zu gurgelnden, rasselnden Atemgeräuschen kommen - ein Zeichen, dass die Atemwege blockiert sind.
- Acetaminophen (Tylenol): In den ersten Stunden zeigt das Kind oft gar keine Symptome. Das ist das Tückische daran. Nach 12 bis 24 Stunden können Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen und Müdigkeit auftreten. Doch bis dahin hat sich bereits schwere Leberschädigung entwickelt. Ohne Behandlung kann es innerhalb von Tagen zu Leberversagen kommen.
- Stimulanzien (z. B. ADHD-Medikamente wie Methylphenidat): Das Kind wird unruhig, panisch, verwirrt, hat schnelle Atmung, hohen Blutdruck, zittert oder krampft. Manche Kinder entwickeln Halluzinationen, reden wirr oder haben einen hohen Körpertemperaturanstieg.
- Husten- und Erkältungsmittel: Diese enthalten oft Antihistaminika, Hustenstiller oder Decongestiva. Überdosierungen führen zu Schläfrigkeit, Verwirrtheit, schnellem Herzschlag, trockener Haut, Verstopfung, Krampfanfällen oder sogar Koma.
- Andere häufige Mittel: Bei Überdosierung von Eisenpräparaten (z. B. Vitamine mit Eisen) treten starke Bauchschmerzen, Erbrechen mit Blut, Durchfall und dunkler Stuhl auf. Bei Schmerzmitteln wie Ibuprofen können Nierenversagen, Blutungen und Bewusstseinsstörungen auftreten.
Wann rufst du die Giftnotrufzentrale - und wann 911?
Die wichtigste Regel: Vertraue deinem Bauchgefühl. Wenn du denkst, dein Kind hat etwas Falsches eingenommen, ruf sofort an. Du musst nicht warten, bis Symptome auftreten. Bei Acetaminophen kann die Behandlung mit N-Acetylcystein (NAC) innerhalb von acht Stunden nach der Einnahme zu 100 % wirksam sein - danach sinkt die Wirksamkeit rapide. Die Giftnotrufzentrale (0800 112 1222 in der Schweiz) hat Experten, die dir in Sekunden sagen, ob es gefährlich ist und was du tun musst. Sie fragen nach dem Medikament, der Menge, dem Alter des Kindes und dem Zeitpunkt der Einnahme - bereite diese Infos vor, wenn du anrufst.Du rufst 911 sofort, wenn dein Kind:
- nicht mehr ansprechbar ist, selbst wenn du kräftig an den Schultern schüttelst
- nicht mehr atmet oder nur noch flach und unregelmäßig atmet
- krampft, zuckt oder unkontrollierbare Bewegungen macht
- Schwellungen an Lippen, Zunge oder Gesicht hat
- eine rasch verbreitete Hautreaktion oder Blasenbildung zeigt
- schwierig schluckt oder nicht mehr sprechen kann
Bei Verdacht auf Opioid-Überdosierung - besonders wenn Fentanyl im Spiel sein könnte - solltest du sofort Naloxon verabreichen, wenn du es hast (z. B. als Nasenspray). Gib eine Dosis, warte zwei bis drei Minuten und beobachte. Wenn sich nichts ändert, gib eine zweite Dosis. Rufe trotzdem 911 - Naloxon wirkt nur kurz, und die Wirkung des Opioids kann zurückkehren.
Warum du nicht warten solltest - auch wenn das Kind „gut aussieht“
Viele Eltern denken: „Es lacht noch, es spielt - es ist doch nicht ernst.“ Aber bei Acetaminophen ist das gefährlichste Missverständnis, dass keine Symptome auch keine Gefahr bedeuten. Die Leber wird bereits geschädigt, während das Kind noch völlig normal wirkt. Ein Kind, das vor drei Stunden einen Löffel zu viel Tylenol geschluckt hat, kann heute Abend ins Krankenhaus gebracht werden - mit akutem Leberversagen. Die Giftnotrufzentrale kann dir sagen, ob eine Blutuntersuchung nötig ist, ob NAC gegeben werden muss - und ob du zu Hause bleiben kannst oder ins Krankenhaus musst.Ärzte sagen: „Die Zeit zwischen Einnahme und Behandlung ist der entscheidende Faktor.“ Eine Studie des Cleveland Clinic zeigt: Nach 16 Stunden ist die Wirksamkeit von NAC nur noch bei 40 % - und danach steigt das Risiko von Tod oder Lebertransplantation dramatisch.
Wie du Medikamentenüberdosierungen verhinderst
Die meisten Überdosierungen sind vermeidbar. Hier sind die einfachsten, aber wichtigsten Schritte:- Alle Medikamente verschlossen aufbewahren: Nutze Kinder-sichere Schränke mit Schlüssel oder Zahlenschloss. 60 % aller Vergiftungen passieren im eigenen Zuhause - oft weil Medikamente auf dem Nachttisch, im Badezimmer oder in der Handtasche liegen.
- Nie Medikamente als „Süßigkeiten“ bezeichnen: Sag nicht „das ist wie Bonbons“ - das vermittelt falsche Assoziationen. Sage lieber: „Das ist Medizin - nur für Erwachsene.“
- Prüfe immer die Wirkstoffe: 70 % der Acetaminophen-Überdosierungen bei Kindern entstehen, weil Eltern mehrere Produkte mit dem gleichen Wirkstoff geben - z. B. Hustensaft + Fiebertabletten. Lies immer die Zutatenliste. Acetaminophen heißt auch Paracetamol, APAP oder Tylenol.
- Verwende immer das richtige Messgerät: Gib niemals einen Esslöffel oder Teebecher. Nutze immer den mitgelieferten Spritzen- oder Messlöffel. Seit 2020 verlangt die FDA in den USA standardisierte Dosiergeräte - das hat die Zahl der Überdosierungen um 19 % gesenkt.
- Alte Medikamente entsorgen: Nicht mehr benötigte Tabletten nicht im Abfall oder Spülbecken entsorgen. Bringe sie zur Apotheke oder zu einer Sammelstelle.
- Überprüfe die Verpackung: Einige neue Medikamente, besonders aus Cannabis-Produkten, sind nicht kindersicher verpackt. Seit 2017 ist die Zahl der Vergiftungen durch Marihuana-Produkte bei Kindern um über 1.400 % gestiegen.
Was du tun solltest - Schritt für Schritt
Wenn du vermutest, dein Kind hat Medikamente eingenommen:- Prüfe sofort: Ist das Kind ansprechbar? Atmet es? Ist es wach?
- Rufe die Giftnotrufzentrale an - sofort. (0800 112 1222 in der Schweiz) Gib alle Informationen: Name des Medikaments, ungefähre Menge, Zeitpunkt, Alter und Gewicht des Kindes.
- Wenn es lebensbedrohlich ist (nicht ansprechbar, nicht atmet): Rufe 911. Beginne mit Herz-Lungen-Wiederbelebung, wenn du ausgebildet bist. Gib Naloxon, wenn verfügbar und bei Verdacht auf Opioide.
- Bringe die Medikamentenverpackung mit: Wenn du ins Krankenhaus fährst, nimm die Packung, die Flasche oder das Etikett mit. Das hilft den Ärzten enorm.
- Vermeide Selbstbehandlung: Gib kein Erbrechen herbei, kein Wasser, kein Milch - es könnte schlimmer werden. Folge nur den Anweisungen der Giftnotrufzentrale.
Neue Hilfen - Online-Tools und zukünftige Sicherheitsmaßnahmen
Seit 2023 gibt es in der Schweiz und in vielen Ländern das Online-Tool webPOISONCONTROL. Es hilft bei weniger akuten Fällen - zum Beispiel, wenn du unsicher bist, ob eine kleine Menge gefährlich ist. Du gibst die Daten ein und bekommst in Echtzeit eine Risikobewertung. Es ersetzt aber nicht den Anruf bei akuten Symptomen.In Zukunft sollen alle flüssigen Medikamente in der Schweiz mit standardisierten Dosiergeräten und einheitlichen Konzentrationen verkauft werden - ein Vorschlag, der 45.000 jährliche Dosierungsfehler verhindern soll. Auch die Verpackungen werden strenger kontrolliert, besonders für neue Produkte wie CBD-Öle oder medizinisches Marihuana.
Was mache ich, wenn ich nicht weiß, was mein Kind eingenommen hat?
Ruf trotzdem die Giftnotrufzentrale an. Sage, dass du nicht weißt, was es war, aber dass du vermutest, dass es Medikamente sind. Die Experten können dir helfen, herauszufinden, was möglich ist - zum Beispiel, indem sie nach vermissten Flaschen fragen, nach Gerüchen oder nach dem Verhalten des Kindes. Auch ohne genaue Angaben können sie dir sagen, ob es dringend ist, ins Krankenhaus zu fahren.
Kann eine Überdosierung auch durch Kontakt mit der Haut passieren?
Ja, besonders bei Fentanyl-Pflastern oder starken Medikamenten. Wenn ein Kind ein Pflaster berührt und dann die Finger in den Mund steckt, kann es eine gefährliche Dosis aufnehmen. Auch wenn du ein Medikament verschmiert hast - z. B. eine Salbe - und das Kind danach seine Hände ableckt, kann es zu einer Vergiftung kommen. Wasche die Haut sofort mit Wasser und Seife, und rufe die Giftnotrufzentrale an.
Sind Hausmittel wie Milch oder Kohletabletten hilfreich?
Nein. Milch, Wasser, Erbrechen auslösen oder Kohletabletten zu geben, kann die Situation verschlimmern. Manche Substanzen reagieren mit Milch zu giftigen Verbindungen. Kohle wirkt nur bei bestimmten Giften und muss innerhalb von einer Stunde gegeben werden - und nur unter ärztlicher Anleitung. Im Zweifel: Nie selbst behandeln. Rufe die Giftnotrufzentrale.
Wie lange dauert es, bis die Giftnotrufzentrale antwortet?
In der Schweiz ist die Giftnotrufzentrale 24/7 erreichbar. Die Antwort kommt innerhalb von 10 bis 30 Sekunden. Die Experten sind medizinisch ausgebildet und kennen jede Substanz, die in Haushalten vorkommt. Sie geben dir klare Anweisungen - oft in Echtzeit, während du noch am Telefon bist.
Ist es schlimm, wenn ich mich irre und anrufe - obwohl es vielleicht nur ein kleiner Schluck war?
Nein. Es ist besser, einmal zu viel anzurufen als einmal zu wenig. Die Giftnotrufzentrale hat Tausende von Fällen pro Jahr - und sie erwarten, dass Eltern vorsichtig sind. Du tust nichts Falsches, wenn du anrufst, um sicherzugehen. Viele Leben wurden gerettet, weil jemand Angst hatte, „überreagiert“ zu haben - und trotzdem angerufen hat.
Geschrieben von Fenja Berwald
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